Missbrauchs-Fall Münster: Chef-Ermittler Marco Krause im Unterricht

 

Rheine. Ein Satz wie ein Nadelstich direkt ins Herz: „Es gibt Kinder, die wurden nur gezeugt, um sie zu missbrauchen.“ In den Gesichtern der SchülerInnen spiegelt sich Fassungslosigkeit. Kopfschütteln. Das ungläubige Entsetzen ist im Klassenraum mit den Händen zu greifen. Die Grenze des menschlich Fassbaren ist erreicht. Marco Krause hält inne, spricht nicht weiter. Einmal kurz durchatmen. Er weiß, dass diese unglaubliche Aussage erst einmal verarbeitet werden muss. Obwohl sich die Klasse der Kaufmännischen Schulen ein Schuljahr lang im Projektunterricht mit den Themen Kinderprostitution und Kindesmissbrauch auseinandergesetzt hat, dringt sie im Gespräch mit dem Polizeibeamten noch einmal in eine andere Dimension vor. Marco Krause ist der Chef der Ermittlungs-Kommission „Rose“, die daran arbeitet, den Missbrauchsfall in Münster aufzuklären. 89 Frauen und Männer gehören zu seinem Team. Es muss 1400 Datenträger – von der Festplatte über Sticks bis hin zu CD´s – nach Tätern und vor allen Dingen nach Opfern akribisch durchforsten. Was für eine Aufgabe? Die Datenmenge beträgt unfassbare 1,2 Petabyte, für deren Speicherung würden 24.000 Computer benötigt.

Auch für Marco Krause ist der Besuch in der Unterstufe der Höheren Handelsschule kein einfacher Termin. Was kann er berichten, ohne die SchülerInnen mit grausamen Erkenntnissen zu überfordern? Was muss er berichten, um einen realitätsnahen Einblick in die grausame Kinderschänder-Szene zu geben, ohne zu beschönigen? Eine Gratwanderung. Der 43-Jährige überrascht die Projektgruppe und Fachlehrer Dieter Tebbe zunächst einmal mit dem Vorschlag: „Ihr könnt mich duzen?“ Kein plumper Annäherungsversuch. „Wir werden gleich über Dinge reden müssen, die schwer zu glauben und zu verarbeiten sind. Das gelingt uns bestimmt eher in einer vertrauten Atmosphäre.“ Er wird recht behalten. Und er hat eine Bitte: „Wenn es zu heftig wird, meldet euch.“

Und dann spricht er sie an, die schwer zu glaubenden und noch schwerer zu verarbeitenden Fakten. 51 Tatverdächtige sind bislang ermittelt worden, 28 sitzen in Haft. Und es werden mit Sicherheit noch viel mehr. „Wir können mittlerweile durchaus von einem gut organisierten Netzwerk der Kinderschänder sprechen“, sagt Krause. Das habe er zwar erwartet, sich das in diesem Ausmaß aber vorher nicht vorstellen können. Treffpunkt der Täter sei das Internet. Vor allem im darknet würden Fotos und Textnachrichten getauscht, Kinder angeboten, Treffpunkte festgelegt, um Kinder zu missbrauchen, Sexualpraktiken erörtert. „Meine KollegInnen kämpfen jeden Tag so gut sie können gegen die Täter. Doch das ist ein Sumpf, den werden wir nie austrocknen können“, bezieht Krause klar Stellung. Seine Stimme klingt dabei aber weniger resignativ, sondern eher kämpferisch: „Wir hören nicht auf, ganz sicher nicht.“

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Der Chef-Ermittler im Missbrauchs-Fall Münster, Marco Krause (re.), sprach mit den SchülerInnen aus dem „Projekt gegen Kindesmissbrauch und Kinderprostitution“ über die Motivation für seine Arbeit, über die Folgen für die Kinder und über Situationen, in denen er „die Faust in der Tasche ballt“.

Dabei ist der Beruf kein leichter: „So manches Mal, wenn uns ein Tatverdächtiger frech anlacht, wenn wir ihn nach dem Passwort seines PC fragen und er dies verweigert oder wenn ein Rechtsanwalt die Aussagen der Kinder in Zweifel zieht, dann balle ich schon die Faust in der Tasche. Das ist dann schwer zu ertragen. Aber wir bleiben auch in solchen Situationen professionell, um einen späteren Prozess nicht zu gefährden.“ Krause bezieht klar Stellung, das kommt an bei den SchülerInnen.

Was die ErmittlerInnen der EK „Rose“ antreibt, das will die Klasse natürlich wissen. Warum tun sie sich das an, stundenlang kinderpornographische Filme anzusehen? Das stärkste Motiv könne er stellvertretend für alle in der EK in einem knappen Satz zusammenfassen: „Ich helfe den Kindern!“. Darum gehe es allen in erster Linie. Und dabei spiele die Zeit eine wesentliche Rolle, denn es seien noch viele Datenträger zu durchleuchten. „Aber jedes Kind, das wir identifizieren und befreien können, ist ein riesiger Erfolg.“ Und dann wird er wieder deutlich, der erfahrene Ermittler aus Münster: „„Machen wir uns nichts vor, missbrauchte Kinder, und wir sprechen hier auch von Babys, sind in ihrer Persönlichkeit zerstört.“ Sehr behutsam übernähmen Psychologen die Gespräche mit den betroffenen Kindern. Er scheut auch den Einblick in sein Privatleben nicht: „Eine Konsequenz ist, dass meine Kinder nirgendwo übernachten.“ Zu den schwersten Aufgaben der Polizeibeamten gehöre es, Eltern mitteilen zu müssen, dass ihr Kind ein Opfer ist: „Das ist wie das Überbringen einer Todesnachricht.“

Marco Krause berichtet über den Alltag der Polizisten, die alle freiwillig ihren Dienst versehen: „Dazu können Sie keinen zwingen.“ Er erzählt, dass Psychologen, Supervisoren und auch Seelsorger den Beamten zur Seite stehen, die täglich die Missbrauchs-Filme ansehen. „Jeder macht Pause, wenn er sie benötigt, jeder bekommt Hilfe, wenn er sie anfordert“, hat der Chefermittler ein wachsames Auge auf sein Team. Denn er weiß: „Das Schlimmste ist nicht, Missbrauch zu sehen, sondern ihn mithören zu müssen“, sagt er – und lässt es aus Rücksicht auf die SchülerInnen bei dieser Andeutung. Ähnlich belastend seien auch die Sprachnachrichten, die die Beamten verschriftlichen müssten: „An dieser Stelle verzichte ich mal auf Beispiele.“ Gratwanderung gelungen.

Viele Fragen haben die SchülerInnen. Sie sind am Ende geschockt von der Brutalität und Empathielosigkeit, mit der Erwachsene Kinder missbrauchen. Und gleichzeitig auch beeindruckt, „wie offen Herr Krause über heikle Themen gesprochen hat“.  Darin mischt sich die Hochachtung für das Engagement aller ErmittlerInnen der EK „Rose“. Die Klasse dankt Marco Krause für seinen Besuch in Rheine und bittet ihn, seinen KollegInnen ebenfalls Dank für ihre Arbeit zu übermitteln. Aber eigentlich müsse er sich bedanken, sagt er: „Ich bin gern zu euch gekommen, weil Aufklärung gerade junger Menschen für mich ein ganz wichtiges Anliegen ist und auch dazu beitragen kann, Verbrechen zu verhindern.“