„Können wir das Rollo hochfahren?“ Eigentlich ist die Frage nicht wert, überhaupt erwähnt zu werden. Eigentlich. Doch in diesem Fall lässt sie tief blicken. Denn der Mann, der sie höflich stellt, berichtet im Mehrzweckraum der Kaufmännischen Schulen gerade vom sexuellen Missbrauch, den er über Jahre erdulden musste. Als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener. Es geschah oft bei herunter gelassenen Rollos. In abgedunkelten Zimmern. Und obwohl das viele Jahre her ist, triggern ihn solche Situationen noch heute. Die Rollos werden hochgefahren, Tageslicht dringt in den Raum. Eine symbolische Szene. Denn Licht ins Dunkel zu bringen, das ist der Anspruch des „Aktionstages gegen Kindesmissbrauch“, den Schülerinnen und Schüler aus der Höheren Handelsschule vorbereitet haben. Sie wollen mit Hilfe von Fachleuten über dieses emotionale Thema informieren. Aber auch helfen. Und überreichen 3000 Euro an den Kinderschutzbund Rheine, die sie im Rahmen ihrer „Schutzengelaktion“ in allen Klassen der Kaufmännischen Schulen gesammelt haben.

Schon der Einstieg in den Aktionstag rüttelt auf. Die Schülerinnen Julia Lammers und Anna Freye aus dem „Projekt gegen Kindesmissbrauch und Kinderprostitution“ verdeutlichen mit ihrem penetrant wiederholten „Es passiert“, dass es nicht irgendwo passiert, sondern in Rheine. Und dass es nicht irgendwann passiert, sondern vielleicht gerade jetzt, zum Zeitpunkt der Veranstaltung. Es passiert rund 50 Kindern und Jugendlichen – jeden Tag. „In jeder Klasse“, zitieren die beiden die Statistik, „sitzen im Schnitt ein bis zwei Schüler:innen mit Missbrauchs-Erlebnissen.“ Zum ersten Mal sind ungläubige Blicke unter den 140 Zuhörerinnen und Zuhörern auszumachen. Gehen hier nicht rund 2000 Schülerinnen und Schüler zur Schule? Was kommt da noch?

„Vielen fällt es schwer, darüber zu reden“, heißt es in der Begrüßung. „Aber Schweigen hilft nur den Tätern.“ Und Schweigen, das will auch der Schulleiter nicht. „Dieser Tag wird herausfordern, aber er wird aufklären. Er wird bedrücken, aber er wird bewegen. Er wird belasten, aber er wird bewusst machen. Er wird schmerzen, aber er wird stärken“, so drückt Tobias Raue seine Erwartungen aus. Und setzt hinzu: „Aber vor allem gibt er uns die Möglichkeit, etwas zu tun, indem wir aufmerksam sind, indem wir Betroffenen zuhören, indem wir uns gegen Ungerechtigkeiten stellen.“ Das Ende der Rede ist ein Aufruf: „Lasst uns heute lernen, verstehen und aktiv werden. Denn wer nicht zuhört, der übersieht. Und wer nicht handelt, der lässt geschehen.“

Also wird gehandelt. Die Schülerinnen Mojde Azimi und Beyza Degerli stellen Daniel-Rene´ vor. Im Alter von sechs Jahren ist er vom Hausmeister seiner Schule missbraucht worden, danach schleppte dieser weitere Männer an.  Der Gast aus Berlin berichtet, wie er nach und nach Opfer des organisierten Verbrechens wurde und bis zum 18. Lebensjahr am berüchtigten Bahnhof Zoo im Pädophilen-Milieu anschaffen gehen musste. Mit 28 nahm sein Leben eine Wendung, er schaffte mit Unterstützung eines Sozialarbeiters den Absprung aus diesem zerstörerischen Umfeld. Heute setzt er sich für Betroffene ein, arbeitet auch an der Uni in Berlin.

Kein Zweifel: Der Mann hat Mut. Drumherumreden ist seine Sache nicht. Er berichtet unverstellt und unverblümt über sein Leben und stellt sich den Fragen der Schülerinnen und Schüler. Es herrscht eine Dreiviertelstunde lang (an)gespannte Stille im Mehrzweckraum, man könnte die berühmte Stecknadel fallen hören. Trotz des belastenden Themas darf man wohl sagen: Daniel-Rene´ist ein begnadeter Erzähler. Die Anspannung des Publikums entlädt sich schließlich in Beifall. Durchatmen. Pause. Ist auch nötig.

Den zweiten Teil des Tages gestalten die Referentinnen und Referenten, die in Kleingruppen mit den Schülerinnen und Schülern ins Detail gehen. Gut eine Stunde lang wird gearbeitet, danach beginnt der zweite Turn mit einem anderen Thema. Die Riege der Gäste verspricht Informationen aus erster Hand: Marco Krause von der SoKo „Rose“ stellt die Ermittlungsergebnisse im Missbrauchsfall in Münster-Kinderhaus vor, der Kinderschutzbund Rheine ist gleich mit drei Kolleginnen vertreten, dazu kommen „Zartbitter“ aus Münster, die „Mitternachtsmission“ aus Dortmund, die DRK-Kinderschutzambulanz Münster sowie Vertreterinnen von „roterkeil.net“, der Partnerorganisation der Schule. Die Spannbreite der Themen ist breit gefächert, es geht unter anderem um sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen, um Prävention vor sexueller Gewalt, Täterstrategien und das Schicksal von Mädchen in der Zwangsprostitution, aber auch um psychische und körperliche Folgen des Missbrauchs.

Am Ende steht das gegenseitige Lob: „Die vermitteln das nicht so langweilig mit einem Vortrag, sondern mit Hilfe von Erlebnisberichten oder szenischen Darstellungen“, sagt ein Schüler. „Die sind wirklich interessiert und machen sehr gut mit“, sagt eine der Referentinnen. Darüber freut sich ganz besonders das Lehrer-Orga-Team Alanah Steuter und Dieter Tebbe.

Freude herrscht auch bei Carolin Bothe und Laura Brinkjans. Sie nehmen einen Scheck über 3000 Euro mit zum Kinderschutzbund Rheine. Gespendet von den Schüler:innen und dem Kollegium sowie einigen hiesigen Unternehmen. Angeschafft werden davon sogenannte „Skill-Sets“. Es handelt sich dabei um eine Art Erste-Hilfe-Sets. In emotional aufwühlenden Trigger-Situationen hilft der Inhalt, sich zu entspannen. Bei sexuellem Missbrauch kann etwa schon ein bestimmter Geruch, ein Ort oder eine Situation zum Trigger werden, der unangenehme Gefühle provoziert, berichten die beiden. Im ersten Moment hilft dann Ablenkung. Etwa mit Chili-Bonbons. Oder mit Anti-Stress-Bällen, ätherischen Ölen, Gummibändern, Akkupressur-Ringen oder Notfallkärtchen. Wie Bothe berichtet, ist alles geeignet, was dazu beiträgt eine belastende Situation zu entschärfen, wieder die Kontrolle zu bekommen und zu entspannen.

Wie wichtig diese Hilfsmittel sind: siehe Textanfang. Die Spenden-Aktion – Ehre wem Ehre gebührt – haben die Schülerinnen und Schüler aus der vorherigen Oberstufe sehr gut vorbereitet und durchgeführt. Denn der Projekttag ist kein einmaliges, sondern ein Langzeit-Projekt. Seit 15 Jahren schon engagieren sich die Kaufmännischen Schulen gegen Missbrauch.

Zum Video des Aktionstages

Der Aktionstag, so meint Schüler Jonas Christiansen, beleuchtet ein emotional anspruchsvolles Thema und rückt Menschen in den Mittelpunkt, die aufgrund sexuellen Missbrauchs vielleicht Dunkelheit um sich herum empfinden. Für sie stellt jede:r Teilnehmer:in ein Licht in einer durchsichtigen Tüte in der Aula auf. Auf der Außenseite sind Statements zu lesen. „Ich fand es sehr aufklärend und spannend. Und ich hoffe, dass jeder etwas von dem Tag mitnimmt und seine Stimme nutzt und davon spricht, damit es aufhört“, lautet eine der Aussagen.

Der Einsatz der Schule geht weiter: Am kommenden Montag arbeiten die Lehrerinnen und Lehrer auf einem Schulentwicklungstag gemeinsam mit Fachleuten aus unterschiedlichen Einrichtungen, um unter anderem ein Schutzkonzept für die Schule zu erstellen.